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Dämmstoff aus dem Meer

Neptunbälle gelten vielen Küstenbewohnern als Plage, Architekt Richard Meier entdeckte in ihnen einen idealen Ökodämmstoff. [contentImage source=“5264804″ desc=“Architekt Richard Meier mit seinem neuen Dämmstoff, einem Neptunball. Er entdeckte das Baumaterial beim Surfen in Spanien.“ title=““ align=“rechts“ /]

Eigentlich hatte sich Richard Meier seinen Ruhestand anders vorgestellt. Der 68-Jährige mit dem windzerzausten Haar und der braun gebrannten Haut ist ein begeisterter Kitesurfer. Nach seiner Abschiedsvorlesung an der SRH Hochschule Heidelberg plante der Architekturprofessor a. D., am liebsten nur noch mit dem Board über Wellen zu reiten, doch ausgerechnet das Meer machte ihm einen Strich durch die Rechnung: Beim Spanienurlaub an der Costa Blanca spülte ihm die Flut einen neuen Dämmstoff vor die Füße.

Geistesblitz beim Surfen

Fast jeder, der schon mal am Mittelmeer war, kennt die sogenannten Neptunbälle: An den Küsten Süditaliens, Tunesiens, Albaniens oder Griechenlands bedecken die braunen, filzartigen Kugeln ganze Strände und müssen von Baggern abtransportiert werden. Im Meer erfüllen die Neptunbälle dagegen wichtige Aufgaben. „Sie bestehen aus den verwelkten Blattrippen der Posidonia oceanica: Im Meer ist diese Seegrasart Lebensraum für Jungfische und Krebse, sie reinigt Wasser von Schadstoffen, speichert CO2 und schützt die Küste vor Erosionen durch Welleneinschläge“, erläutert Richard Meier.

Stirbt die Pflanze ab, formen die Wellen die Blattrippen zu Bällen und schwemmen sie an Land. So wie an jenem Tag im Sommer 2006, als Meier mit seiner Frau und einem Freund vergeblich auf Wind wartete. Die drei Surfer froren und versuchten, mit den Filzknödeln ein Lagerfeuer zu entfachen. Keine Chance. „Nicht mal verbrennen kann man das Zeug“, sagte der Freund damals zu Meier.

Das ließ den Experten für Baustoffkunde aufhorchen. Er nahm ein paar Proben mit nach Hause und ließ sie vom Fraunhofer-Institut für Bauphysik IBP prüfen. Die Forscher waren überrascht: Dank seiner Silikatfasern ist das Seegras schwer entflammbar. Ein Vorteil gegenüber vielen Ökodämmstoffen, denen Borsalze als Brandhemmer beigemischt werden. Zudem schimmelt es nicht, speichert hervorragend Wärme und trocknet rasch: Die Fasern geben Wasser nach zwei bis drei Tagen wieder ab, ohne Schaden zu nehmen. „Sie kommen ja schließlich aus dem Meer“, sagt Meier schmunzelnd.

Einbaufertig aus dem Wasser

Zehn Jahre nach dem Spanienurlaub steht der Dämmstoff-Pionier in der Lagerhalle seiner Firma NeptuTherm nahe Karlsruhe. Auf dem Hallenboden stapeln sich 1500 Säcke voll mit Seegras. „Mit einem Teil davon dämmen wir in Kürze die oberste Geschossdecke einer Realschule“, sagt Meier und greift sich einen der kiwiähnlichen Bälle. Die Filzkugeln lässt er an Stränden in Tunesien und Albanien von Hand einsammeln und per Bahn, Schiff oder Lkw nach Deutschland bringen.

Zwar gehört sein Seegras wegen der langen Transportwege mit 150 bis 165 Euro pro Kubikmeter zu den teuersten Dämmstoffen. Dafür bekommen Bauherren ein hundertprozentiges Naturprodukt ohne chemische Zusätze. Trotz des Transports ist die Primärenergiebilanz bis zu 20-mal besser als bei Polystyrol, das an den meisten deutschen Hausfassaden pappt. Kein Wunder, das Material wird fast einbaufertig an Land geschwemmt: Ein Sieb rüttelt nur noch den Sand aus den Poren, bevor der Häcksler das Gras zerkleinert. Dann bringen Meiers Leute die Fasern in wasserdichten Plastikpfandsäcken auf die Baustelle, stopfen oder blasen sie in Dächer, Innen- und Außenfassaden oder schütten sie auf Geschossdecken.

Entsorgung im Garten

Mehr als 600 Gebäude – Einfamilienhäuser, Schulen, Kinder­gärten und Verwaltungsgebäude – dämmt der „Meeresabfall“ schon. Reich wird Richard Meier mit seiner Entdeckung trotzdem nicht: Mehr als die Hälfte der rund 800 000 Euro für Produkt­entwicklung, Forschung, Zulassungen und Patente hat er privat finanziert. Auch alle Preisgelder, die sein innovativer Baustoff gewann – etwa den Preis der Ikea-Stiftung oder den Sonderpreis „Innovation“ der Metropolregion Rhein-Neckar – flossen zurück in die Forschung.

„Wenn ich nicht meine komplette Altersvorsorge einsetzen will, brauche ich weitere Partner“, sagt Richard Meier. Schließlich hat er mit seinem Ökodämmstoff noch einiges vor. In den kommenden Jahren möchte Meier eine naturreine, flexible Schalldämmmatte aus Seegrasfasern auf den Markt bringen. Zudem forscht er an einer harten, mineralisch gebundenen Platte, die sich als Innen- oder Kellerdeckendämmung einsetzen ließe. „Mit den unterschiedlichen Produkten könnten wir fast alle Dämmaufgaben im Bauwesen abdecken.“

Zum Kitesurfen kommt Richard Meier inzwischen nur noch, wenn er den Laptop mit in die Reisetasche packt. Er nimmt es gelassen und freut sich, dass sein natürlicher Dämmstoff immer mehr Menschen begeistert. Kürzlich beauftragte die Stadt Karlsruhe NeptuTherm, mit dem Seegras 17 öffentliche Gebäude einzukleiden. Auch ein Systemhaus ist in Planung. Über die spätere Entsorgung müssen sich die Bauherren keine Gedanken machen: Sollte der Dämmstoff irgendwann nicht mehr gebraucht werden, harken sie die Fasern zum Bodenauflockern einfach unter die Gartenerde.

Mehr infos unter www.neptutherm.de.


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Riesige Unterwasserwiese

Neptungras (Posidonia oceanica) wächst extrem langsam – pro Jahr nur ein Zentimeter – und vermehrt sich auch nur sehr gemächlich. Allerdings begann die Urmutter aller Neptungraspflanzen schon vor ungefähr 80 000 bis 200 000 Jahren, sich fortzupflanzen. Und zwar, indem sie Klone produzierte.
40 bis 60 Meter unter dem Meeresspiegel entstanden so riesige, zusammenhängende Seegras­wiesen. Welche Ausmaße sie haben, stellten Forscher 2012 fest, als sie an 40 Stellen im Mittelmeer – von Spanien bis Zypern – ­Neptungrasproben sammelten.

Die DNA wies überall dasselbe Muster auf. Damit bildet die Pflanze die größte Wiesenlandschaft der Welt – unter Wasser. In Seegraswiesen tummeln sich Fische und Krebse, ihr Teppich schützt Strände vor Erosion, hält das Meer sauber und bunkert das Treibhausgas Kohlendioxid. Ein Hektar Seegraswiese kann mehr CO? in Sauerstoff umwandeln als die gleiche Fläche tropischer Regenwald. Allerdings bedrohen die durch den Klimawandel ansteigenden Wassertemperaturen die Wiesen. Seegras wächst im Flachwasser, das die Sonne während der Hitzewellen extrem aufheizt. Auch die Schleppnetze der Fischer, Schiffsschrauben und Anker setzen ihm zu. Seegras verschwindet weltweit fast so schnell wie der Regenwald.